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Götz Kubitschek: Preußen! Und nun? Vortrag
im Rahmen des 12. Berliner Kollegs des Instituts für Staatspolitik (IfS), gehalten am 18. November 2006
Wenn Konservative über 200 Jahre „Preußische Reformen“ sprechen, so tun sie das meist mit einer gewissen, im Verlauf der
Rückschau sich steigernden Wehmut. Es ist dies die Wehmut, mitunter auch: die Schwermut, die uns ergreift, wenn wir an die lange vergangenen Tage der Fülle und des Glücks denken.
Preußen war Fülle und Glück, vor allem für einen bestimmten Typus, keine Frage: Hans Dietrich Sander bezeichnete in einer
kleinen Schrift aus dem Jahre 1986 Preußen als die „Polis der Neuzeit“, und er versteht darunter den gelungenen Ausgleich zwischen Gemeinschaft und Einzelnem: „Wenn Friedrich der Große in seinen
„Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburgs“ Friedrich I. (der 1702 die Königswürde errang) nachrühmte, ein preußisches Athen, und Friedrich Wilhelm I. (dem Soldatenkönig) ein
preußisches Sparta geschaffen zu haben, so vollbrachte er selbst das Wunder einer Symbiose der athenischen und spartanischen Elemente“ (Sander). Zu Recht feierten die gelehrten, künstlerischen,
aufklärerischen Zeitgenossen ihn als den „Großen“, der Staatsraison und individuelle Entfaltungsmöglichkeit in eine sagenhafte Balance zu bringen im Stande war.
Eine politische Balance ist ein Artefakt, und Preußen war ein Kunstprodukt, keinesfalls so etwas wie der natürliche Weg, den
Brandenburg hätte nehmen können, keinesfalls etwas Organisches im Sinne einer frei wachsenden Pflanze, allenfalls eine organische Konstruktion, etwas Gemachtes also, das in seiner Stimmigkeit wie
gewachsen wirkt.
Eine Balance, ein Artefakt – und heute ist es längst vorbei damit. Dies muß am Anfang meiner Ausführungen stehe: Jede
Balance ist endlich, auch die Preußische ist gekippt, Preußen ist nicht mehr und kann nie wieder sein. Nostalgien sind erlaubt, aber bloß im Privaten, nie in der Politik: Sie hindern uns daran, das zu
tun, was unserer Zeit gemäß ist.
Und diese unsere Zeit ist – von Preußen aus gesehen – natürlich eine dürftige Zeit, und diese Dürftigkeit wird
erst dann so ganz und gar deutlich, wenn wir Preußen noch einmal beschreiben und verteidigen, bevor wir die Frage stellen, was wir mit dem Begriff „Preußen“, mit diesem vergangenen Staat heute noch
anfangen können.
Die Beschreibung dessen, was Preußen war, kann sich auf zwei Kennzeichen beschränken, und Sie werden im Verlauf dieser kurzen
Beschreibung rasch erkennen, daß es nicht um Versatzstücke der nützliche Teilchen Preußens geht, sondern um den preußischen Wurf als Ganzes. Auf zwei Kennzeichen Preußens beschränke ich mich also, es
sind dies zum einen „Preußen als verwirklichte Idee und damit als Willensakt“, und zum andern „Preußen als Verortung des Einzelnen im Dienst“.
Preußen als verwirklichte Idee und damit als Willensakt löste, als Preußen seine Form gewann, unter den Staatstheoretikern
dieser Zeit Begeisterung aus. Der Wahl-Preuße Friedrich Wilhelm Hegel prägte den Satz: „Wenn die Wirklichkeit mit der Idee nicht übereinstimmt, um so schlimmer für die Wirklichkeit“. Dieser Satz,
der oft als ein krasses Beispiel für die Anmaßung der Philosophie zitiert wird, trifft auf die Geschichte der Staatenbildung gänzlich zu. Ich führe das jetzt nicht an den gelungenen und mißlungenen
Beispielen der europäischen Staatenbildung aus, Hans Dietrich Sander hat das in seiner bereits erwähnten Schrift getan.
Ich beschränke mich auf Preußen: Hier dachten drei überragende Regenten den Staat und ordneten die chaotische Wirklichkeit
nach ihrem Entwurf dem Ergebnis ihres Denkens:
Es beginnt mit Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten, der den preußischen Streubesitz konsolidierte und seine Souveränität
durchsetzte – vor allem durch den Sieg über die Schweden bei Fehrbellin (1675).
Sein schwacher Sohn, Friedrich I. erwarb die Königswürde und prägte den Leitspruch „Suum cuique“ – „Jedem das
Seine“, der das preußische Leitmotiv gab. Ansonsten hinterließ er den Staatsbankrott und zählt nicht zu den drei überragenden Regenten.
Unbedingt dazu zählt hingegen sein Thronfolger, Friedrich Wilhelm I., der auf dem Fundament seines Großvaters die Wände des
Staatsgebäudes hochzog: Er machte aus der „Streusandbüchse des Reichs“ den modernsten Staat Europas mit der effektivsten Verwaltung, den besten Manufakturen, dem stärksten Heer, getragen von einem
unverwechselbaren Typus des preußischen Offiziers und des preußischen Beamten. Und „er schliff die sensible Empfindsamkeit seines Sohns, des Kronprinzen zu diamantener Härte, wie gröbere Naturen sie nie
erreichen“ (Sander).
Friedrich der Große, der dritte überragende Regent, deckte nun das Staatsgebäude „Preußen“ mit dem Dach der
Rechtsstaatlichkeit und schuf den eigentlichen „Mythos Preußen“, das große Schlachtengemälde also, vor dem sich in der Zeit der Erniedrigung nach 1806 und den darauf folgenden Brüchen der
preußischen Geschichte all jene versammelten, die den Geist Preußens suchten, um in seiner Atmosphäre den Staat zu erneuern und weiterzubauen. Solche kurzen Abrisse sind dürre Worte. Man steht starr vor
der Leistung der drei großen preußischen Führungsgestalten, wenn man den Leitdanken meiner ersten These ganz ernst nimmt und sich vergegenwärtigt, was im Falle Preußens die Verwirklichung einer Idee
bedeutet: Dort, wo Friedrich der Große den perfekten Staat und einen Mythos des Willens hinterließ, war 150 Jahre zuvor nichts außer Sand und Zerstückelung, Armut und politischer Ohnmacht, war die Mark
Brandenburg die Beute der umgebenden Nationen, und vorhanden, also „vor Ort“ war außer einer Idee eigentlich bloß eines: die Deutschen als Volk, denen Machiavelli die besten Voraussetzungen für die
Gründung eines Staats zuschrieb. Sie seien diszipliniert, fleißig, ehrlich, könnten mit Geld umgehen, hielten die militärische Übung in Ehren, zögen ein rauhes, freies Leben dem verderblichen Luxus vor,
hielten die Willkür des Adels kurz, hätten Gemeinsinn, Gerechtigkeitsgefühl, Gesetzestreue.
Auf diese Substanz konnten sich die preußischen Staatenbildner unbedingt verlassen: Sie brachten etwas in Form, was nach
dieser Formgebung verlangte, was in der ungeordnete Formlosigkeit keinen erstrebenswerten Zustand, sondern ein abträgliches Chaos sah. Die „Idee Preußen“ war maßgeschneidert für dieses Volk, und
das einzige, was fehlte, war die Erziehung, war die Durchformung, war der Hebammendienst, um aus den Deutschen das zu machen, was in ihnen steckte und wonach das Volk amorph verlangten, ohne daß es
selbst es hätte entwickeln können. Dieser Hebammendienst – nach Sokrates die beste Beschreibung eines gelingenden erzieherischen Aktes – war der Dienst der preußischen Regenten an ihrem
Staatsvolk – sie leisteten diesen Dienst, er gelang ihnen prächtig und wurde vom Volk tausendfältig vergolten.
Damit bin ich ja längst beim zweiten Kennzeichen Preußens: bei der Verortung des Einzelnen durch den Dienst am Staat. Diese
Verortung ist im Falle Preußens nichts anderes als eine Erziehung zur Idee Preußen, und weil diese Idee im suum cuique, im „Jedem das Seine“ ihre Formel gefunden hat, ist die Erziehung zur
Idee Preußen vor allem Selbsterkenntnis: Wo ist mein Platz, was darf mein Land von mir fordern und erwarten, ohne daß ich mich dabei verleugnen muß.
„Ohne, daß ich mich dabei verleugnen muß“: In diesem Halbsatz steckt die Weisheit, mit der Preußen geführt wurde. Man
holt alles aus dem Einzelnen heraus, man zwingt ihn dazu, alles zu tun, um zu erreichen, was erreichbar ist. Man weist dem Einzelnen seinen Platz zu, es ist dies aber nicht irgendein beliebiger Platz:
Man hat dabei stets die Natur des Menschen insgesamt und des einzelnen Menschen insbesondere im Blick, man überfordert ihn nicht, man schafft keinen „Neuen Menschen“, wie es etwa der Kommunismus
tut, der die anthropologischen Konstanten, das Unverrückbare am Menschen nicht beachtet. Preußen fordert alles, aber nichts darüber hinaus, und ehrfürchtig stehen wir vor dem entscheidenden Wendepunkt,
wo aus dem Zwang zur „Idee Preußen“ – der unvermeidlich am Anfang steht – die Neigung wird, und der Einzelne sich den Staatsrock gerne und voller Pflichtbewußtsein überstreift, das suum cuique begreift,
sich seinen Platz sucht und den Staat zu tragen beginnt.
Ich kann unserem Staat eines nicht verzeihen – und damit wende ich den Blick auf unsere heutige Situation und bin mir
sicher, daß das, was ich nun zu beschreiben versuche, nur für denjenigen unmittelbar verstehbar und einleuchtend sein wird, dessen Leben ähnlich gestimmt verläuft wie meines: Ich kann unserem Staat nicht
verzeihen, daß er sich über meine Neigung zum Dienst, über meine Neigung zur Pflichterfüllung, über meine Neigung zum Respekt vor der politischen Führung lustig macht. Ich kann unserem Staat nicht
verzeihen, daß er mich und große Teile meiner Generation in dem Bewußtsein oder auch bloß dumpfen Gefühl aufwachsen läßt, daß wir nicht gebraucht werden. Daß unser Staat die Dienstbereitschaft des
preußisch gestimmten Typs zurückstößt, ist eine Tragödie – für den Staat selbst ebenso wie für denjenigen, der dienen möchte, und ich meine das ganz allgemein und ganz konkret zugleich:
Ganz allgemein kann ich sagen, daß die Selbsterkenntnis eine der wesentlichen Erziehungsleistungen sein muß. Die
Selbsterkenntnis gründet darauf, die eigene Leistungsfähigkeit, den eigenen Rang, die Grenzen der eigenen Persönlichkeit zu erfassen, anzunehmen und nach diesem Gesetz zu leben: So mußt du sein, dir
kannst du nicht entfliehen, dichtete Goethe, und auch dieser Vers aus den Urworten orphisch ist wieder nur eine Übersetzung des suum cuique.
Ich bleibe noch im allgemeinen, wenn ich sage, daß zur Selbsterkenntnis und damit zum geglückten Leben die Einsicht gehört,
daß es Hierarchien gibt, und daß es eine Unter- und eine Überschätzung gibt, die beide dem Leben ähnlich abträglich sind: Denn sie stören die Ordnung, die immer eine stimmige Verortung ist, und jeder
kennt das Gefühl der Unstimmigkeit, wenn einem jemand auf Augenhöhe gegenübertritt, der eigentlich von gar nichts eine Ahnung hat. Diese Anmaßung ist das eine. Das andere ist der Eindruck der Vergeudung,
den ich immer dann gewinne, wenn ich junge Leute sehe, die in ihrem Leistungswillen zurückgestoßen werden.
Hier wird es nun konkret: Ich habe das intensiver als anderswo beim Militär erlebt: Kaum ein junger Offiziersanwärter rückt ja
in die Kaserne ein, um ein Etappenschwein zu werden. In den Gesichtern der Rekruten spiegeln sich Leistungswillen, Idealismus, Respekt, Ehrgeiz, man merkt ihnen die notwendige Schlaflosigkeit an, sie
besitzen glänzende Augen – aber diese Augen werden rasch trübe, die Nehmerqualitäten werden tagaus tagein gefördert, und aus dem Leistungswillen wird Schlendrian, aus dem Respekt die Ironie, aus
der Dienstbereitschaft die Gewerkschaftsmentalität – kurz: aus dem jungen Kriegsgott der Beamte mit Schützenschnur, ein elender Anblick jedenfalls.
Das Militär ist bloß ein Beispiel von vielen, jeder könnte eines beisteuern. Im Kern geht es immer um dasselbe: Man vermeint
dem Menschen etwas Gutes zu tun, weil man ihn nicht fordert und nicht fördert und weil man seinen Drang, sich in ein Gemeinsames einzuordnen, als etwas Rückständiges bezeichnet. Dabei liegt die
eigentliche Überforderung für die meisten Menschen dort, wo sie alles aus sich selbst heraus entscheiden und bewerkstelligen sollen, und wo ihnen eine Mündigkeit zugeschrieben oder vorgegaukelt wird, mit
der sie nichts anzufangen wissen.
Daß Mündigkeit und Freiheit nicht am Anfang, sondern am Ende eines erfolgreichen Erziehungsprozesses stehen, wußte man in
Preußen. Preußen brachte ein Verhältnis von Ordnung und Freiheit hervor, in dem „der Einzelne zur Gemeinschaft in eine Beziehung trat, die ihn tendenziell nicht unterdrückte, und die Gemeinschaft mit dem
Einzelnen einen Verkehr unterhielt, der sie nicht auflöste“ (Sander). Das ist in der Weltgeschichte nur wenigen politischen Einheiten geglückt. Natürlich gab es auch in Preußen ein Auf und Ab der
Geschichte, und nicht immer waren die Verhältnisse ausgewogen.
Im Großen und Ganzen aber schon, denn die schöpferische Synthese ist der „Preußische Typus“, der im Gegensatz zur
Karikaturlegende eine „sehr gelungene Mischung aus Eigensinn, Disziplin und Einfallsreichtum“ (Sander) war. So etwas entsteht nur durch Erziehung, durch den Schliff einer rohen Veranlagung, und
wenn der Hebammendienst – ich verwende dieses pädagogische Wort jetzt zum dritten Mal – nicht feinsinnig geleistet wird, dann geht die Sache schief: Dann unterdrückt die Gemeinschaft den
Einzelnen – oder sie löst sich unter dem Druck der Ich-Sager auf. Bei dieser Auflösung aller Dinge und insbesondere bei der Auflösung des Staats sind wir heute angelangt: unpreußischer kann kein
Staatsgebilde sein. Aber auch das Dritte Reich war längst kein Preußen mehr: „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“ wäre einem preußischen Regenten nie über die Lippen gekommen, weil in diesem Satz
die schöpferische Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft aufgehoben ist. Und alleine darin, daß dieser Satz nach 1945 umgedreht wurde, und „Du alles, Dein Volk nichts“ ist, liegt der Beweis,
daß Preußen heute allenfalls noch auf der abgewandten Seite des Monds zu finden ist.
Preußen ist tot. Aber auch das Zeitalter, in dem Preußen das kunstvollste Artefakt war, ist vorbei, und mit ihm ist der
preußische Staat unwiederbringlich vergangen. Damit ist auch die preußische Geschichte abgeschlossen, und die Renaissance Preußens ist bloß ein Traum, schön und gefährlich. Denn – wie ich anfangs
schon sagte: Auf Preußen zu hoffen und preußisch gestimmt zu träumen, hindert uns daran, unsere konkrete Lage zu erfassen, angemessen in ihr zu leben und Politik zu betreiben. Nostalgien sind nicht
politisch.
Wenn also Preußen als Ganzes, Preußen als Staatsidee nicht mehr der Zielpunkt unserer politischen Anstrengungen sein kann,
dann könnte doch zumindest der preußische Typus, den ich vorhin kurz beschrieb, der Zielpunkt der Selbstausbildung und der Erziehung im begrenzten Kreis der Familie und des politischen Milieus sein. Wir
könnten unserem Staat Hunderte und Tausende Preußen zur Verfügung stellen, wir könnten zu Hunderten und Tausenden den Staat in seiner Dürftigkeit, in seiner grotesken Verzerrung tragen helfen und
zurechtrücken, was in unserer Macht steht.
Wir könnten ein Korrektiv, ein Gegengewicht zum Durchschnittsdeutschen von heute bilden, denn auch im Blick auf den Einzelnen
sind die Tugenden glatt umgedreht: Der Deutsche ist heute ein Schweinchen Schlau, unmäßig in seinem Anspruch, um keine Ausrede verlegen, ein ganz großer, dekadenter Ich-Sager, ein Ausbeuter, ein
Sozialschmarotzer, ein Blender, ungebildet, desinteressiert, weinerlich und längst schon sehr erfolgreich darin, seinen Ruf im Ausland zu ruinieren. Er übernimmt wahllos alles Fremde und freut sich wie
verrückt, wenn ihm während der Fußballweltmeisterschaft bescheinigt wird, er sei in der Lage, brasilianisch oder schwedisch oder spanisch zu feiern und seine spießige, steife Art nicht nur für den Moment
des Karnevals, sondern fürs ganze Leben abzulegen.
Denn der Deutsche „empfindet ein seltsames Unbehagen an sich selbst und wäre gerne ein anderer. Ungemütlich wird er eigentlich
nur noch dann, wenn ihm einer dieses Behagen im Untergang nehmen will“ (Sander). Er will keinen deutschen Sonderweg und keine deutsche Zukunft mehr, und dabei gehört doch beides ganz
selbstverständlich zu jedem großen Volk. Auch wir Deutschen werden weiterhin einen eigenen Weg gehen müssen.
Dies alles zusammengenommen ist eine verheerende Bestandsaufnahme. Wenn wir nun den sozialtherapeutischen Parteienstaat und
den durchschnittlichen deutschen Jammerlappen einmal zusammendenken; wenn wir vor unserem geistigen Auge unsere politische Führung vorbeidefilieren lassen und uns vergegenwärtigen, wie groß der Haufe an
Steuergeldern ist, der für die Frist meines Vortrags von dieser Führung im In- und Ausland für die fortdauernde Zersetzung der deutschen Substanz verpulvert wird; wenn wir uns weiterhin vor Augen halten,
daß unser Staat nicht mehr erzieht, sondern ruhigstellt, nicht mehr an seiner Zukunft baut, sondern den hunderttausendfachen Mord im Mutterleib subventioniert und einen Ersatz für die so vernichteten
Konsumenten auf der ganzen Welt zusammenkratzt; wenn wir also die Ruinierung selbst der Substanz, der von Machiavelli hochgelobte, von den preußischen Regenten durchgeformten Substanz des deutschen Volks
zusehen müssen: Ist es dann überhaupt noch sinnvoll, als preußischer Typus, als Etatist und staatstragender Bürger stabilisierend zu wirken? Ist es dann nicht sogar abträglich, ein guter Preuße zu sein
und einen Staat zu stabilisieren, der seinen Untergang, seine Entwürdigung längst selber will und täglich alles dafür tut, um zugrunde zu gehen?
Die Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach, sie führt zum Kern konservativen oder rechten Selbstverständnisses, das stets
die Verortung, die Ordnung, den Staat, den Dienst, die stabile Institution und die stabilisierende Wirkung des eigenen Tuns sowie den Respekt als Grundpfeiler nennt. Wenn ich jetzt zehn Thesen aufstelle,
dann will ich vorausschicken, daß das richtige Verhältnis zu unserem Staat und unserer Zeit die Grundfrage ist, deren Beantwortung von rechter Seite bisher nicht geleistet wurde. Die Brüche, die in
diesen Thesen stecken, spiegeln das grundsätzliche Dilemma des staatstragenden Typs, der nichts mehr vorfindet, was zu tragen sich lohnte.
10 Thesen über den Versuch, heute in Deutschland stolz zu leben
These 1: Zum „Preußischen Typus“ wird man heute nicht mehr durch Geburt in einen Staat hinein und die daraus
zwangsläufig resultierende Staatserziehung, sondern durch Wahl. Den Wahlpreußen gibt es, seit es Preußen gibt – und darüber hinaus noch immer, obwohl Preußen nicht mehr ist.
These 2:
Der Wahlpreuße von heute hat keinen Ort mehr. In unserem Staat, der das Gegenteil von Preußen ist, kann der Wahlpreuße nicht
gedeihen. Die Staatserziehung ist heute gegen den preußischen Geist und damit gegen den Staat an sich gewendet.
These 3:
Der Zielpunkt des Wahlpreußen von heute muß dennoch der Staat mit seinen Institutionen bleiben. Ein privates Preußentum ist
Folklore. Auch dem Wahlpreußen von heute muß es darum gehen, das Verhältnis von Staat und Individuum in eine für die Nation fruchtbare Balance zu bringen.
These 4:
Bei diesem Unterfangen steht der Wahlpreuße von heute vor einem grundsätzlichen Dilemma: Er folgt seiner Neigung, den Staat
und seine Institutionen zu tragen und zu würdigen. Aber er trägt und würdigt damit ein Gebilde, das ihm seinen Dienst mit Gelächter und Ohrfeigen quittiert.
These 5:
Auf Gelächter und Ohrfeigen könnte man mit Gelächter und Ohrfeigen antworten, wenn dies ausreichte, um die falschen Leute aus
den würdigen Institutionen zu treiben. Aber es ist viel schlimmer: So, wie unser Staat gebaut ist, ist er kaum zu stabilisieren. In seinen Fundamenten finden sich viele Einschlüsse, die der Nation das
Verderben bringen. Und er zerstört durch seine derzeitige Politik die Substanz des deutschen Volkes, das ohne Wenn und Aber die Grundlage einer deutschen Zukunft ist.
These 6:
Der Wahlpreuße von heute muß im Blick auf diesen Staat aufhören, sich wie ein Preuße zu benehmen. Wenn er es nicht tut, wird
er zur lächerlichen Figur. Er wird zum nützlichen Idioten, der weiterhin stabilisiert, was andere mit seiner Unterstützung noch etwas länger und etwas ertragreicher aussaugen können.
These 7:
Die angemessene Haltung des Wahlpreußen von heute dem Staat gegenüber ist die des Getreuen, der die Idee vor der Wirklichkeit
retten möchte. Er muß den Tabubruch, den gezielten Regelverstoß, den zivilen Ungehorsam, die Respektlosigkeit als politische Waffe einüben und einsetzen. Er muß bekämpfen, was den Staat zerstört und die
Nation kastriert. Das bedeutet nichts anderes, als daß er den Staat von seinen abträglichen Institutionen befreit, ohne die Institution an sich in Frage zu stellen.
These 8:
Wenn der Wahlpreuße von heute so verfährt, bleibt er kein Preuße. Das Dilemma zwischen gelebtem Anarchismus und innerem
Ordnungswunsch wird ihn zersprengen. Er muß, um effektiv anarchistisch und revolutionär zu sein, seine Neigung zu Respekt, Ordnung und Stabilität ablegen wie die Uniform eines fremden Staates. Ob er nach
getaner Tat zur Ordnung zurückfinden kann, ist nicht gewiß: Die Verletzung der Ordnung – und sei es eine so falsche wie die unseres heutigen Staats – wird den Wahlpreußen selbst verwundet
zurücklassen.
These 9:
So bleibt dem Wahlpreußen von heute in seinem Verhältnis zum Ganzen des Staats nur die Wahl zwischen komischer Figur und
Selbstverleugnung. Ein Drittes ist nur denkbar, wenn der Wahlpreuße die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen um ein wiederherstellbares Ganzes einsieht. Denn vor der allgemeinen Neigung zum Dienst am Staat
stünde der allgemeine Zwang einer Erziehung zum Dienst. Diesen Zwang aber kann heute keiner mehr ausüben: nicht die Schule, nicht das Militär, niemand im Staat, nicht im Zeitalter der offenen Grenzen und
der internationalen Gerichtshöfe. Selbst die familiäre Erziehung steht in dieser Hinsicht auf des Messers Schneide: Zu gering ist der Zwang für die Kinder, sich irgendwann einmal in der Sippe zu
verorten. Sie können auch einfach gehen.
These 10:
Der Wahlpreuße von heute tut gut daran, seinen Blick vom Staate abzuwenden und sich andere Bezugsgrößen zu suchen. Er ist
derjenige, der die Insignien in Sicherheit bringt. Der Personalverband ist sein Ort. Er trägt ein preußisches Gesicht, wenn er auf der Überzeugung gegründet ist, daß es etwas spezifisch Deutsches gibt,
und daß dieses Deutsche bewahrt werden muß. Die Lage ist ernst: Unsere Nation wird in wenigen Jahrzehnten nicht wiederzuerkennen sein und ihr deutsches Gesicht in vieler Hinsicht verloren haben. Gegen
diese Vorgänge muß der Wahlpreuße sein bewahrendes „Trotzdem!“ setzen: Uns wird es immer geben! Es ist dies ein starker, trotziger Satz, aber um nichts anderes kann es dem Wahlpreußen gehen: um
immer wieder neue Versuche, heute in Deutschland stolz zu leben. Wer dies begreift, der wird die Zukunft nicht mehr bei den nützlichen Idioten suchen. Und er wird einen nationalen Anarchisten im
Zweifelsfalle als einen verzweifelten Preußen verstehen.
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