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Wassermann
weiter aus: Fritz Riemann, Lebenshilfe Astrologie, Stuttgart 171999
... was »man« darf oder nicht darf. Er will sich davon befreien zugunsten einer ihm vorschwebenden höchstmöglichen Freiheit und
Unabhängigkeit, zugunsten einer Selbstverwirklichung, die wir am treffendsten wohl mit dem von Jung geprägten Begriff der Individuation beschreiben können. Jung selbst und James Joyce, von dem das obige Zitat
stammt, standen beide unter dem Einfluß dieses Zeichens. Ein einmaliges Individuum zu werden und zu sein, die Besonderheit seines Wesens anzunehmen und es zu optimaler Entfaltung zu bringen, ist die Grundidee dieses
Zeichens, die der Mensch hier keinem äußeren Zwang zu opfern bereit ist – das würde er als Verrat an sich selbst empfinden. Die Anerkennung des Individuums in der sozialen Gemeinschaft, die Anerkennung seiner
Menschenrechte, ist hier oberstes Anliegen: Der Mensch sehnt sich nach einem von aller Erdenschwere losgelösten Sein, er möchte in heiterer Souveränität über allem ihn Binden-Wollenden stehen, in einer Gelassenheit,
die nach Marie von Ebner-Eschenbach »eine anmutige Form des Selbstbewußtseins« ist.
Mit der Sonne in diesem Zeichen hat der Mensch ein ihm eingeborenes Leitbild, das auf der Linie des Humanisten, des Reformators und Freidenkers,
allgemeiner des original-eigenständigen Individualisten liegt. Er erlebt das Auf-sich-gestellt-Sein des einzelnen mit der darin liegenden Würde, die ihm das Bewußtsein verleiht, Träger eines einmaligen Schicksals zu
sein. Er ist um größtmögliche geistige Freiheit bemüht, und das kann ihn zu weitgehender Abgelöstheit, Losgelöstheit bringen, ihn vor quälenden mitmenschlichen Verstrickungen und vor dem Überfremdet-Werden bewahren,
das zuviel Nähe und Bindung bedeutet. Das führt ihn zu leidenschaftsloser, kristallklarer Erkenntnis, die ihm den Blick freigibt für das allen Menschen Gemeinsame, für das Humane, in dem sich seine Isolierung wieder
aufhebt. Diesem die notwendigen Lebensbedingungen zu verschaffen, dem Humanen zum Durchbruch zu verhelfen, das Individuum und die Gemeinschaft in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und ihrem aufeinander
Angewiesensein zu erkennen, ist wohl sein tiefstes Bedürfnis. Das Schattenbild zu diesen Leitbildern liegt im verkrampften Überbetonen der individuellen Eigen-Art; das Etwas-Besonderes-sein-Wollen wird dann
Selbstzweck, das sich von anderen unbedingt Unterscheiden-Wollen, das Nur-nicht-wie-alle-sein-Wollen wird zu arrogant-snobistischen Haltungen, als ob allein schon das Anders-als-die-anderen-Sein ein Wert und der
Sinn dieses Zeichens sei. So liegen auf der mißverstandenen Linie dieses Zeichens der Snob, der eigenbrötlerische Sonderling, der hybrid-utopische Menschheitsbeglücker oder -verbesserer, der Sektierer, der Atheist
und der Solipsist.
Nach dem Geschilderten können wir verstehen, daß es hier besonders leicht zu Entwicklungen in der Richtung der Schizoidie kommt. Denn durch sein sich
Abgrenzen verliert der Mensch alle vertraute Nähe und mitmenschliche Geborgenheit. Der von ihm erlebte Aufruf zur Individuation kann mißverstanden werden als Aufruf zur Originalität bis zur Originalitätssucht; im
Verachten aller Zugehörigkeiten, in der Ablehnung auch gesunder Bindung und Abhängigkeiten, sieht er diese nur als Massenangelegenheit, als kollektive Gewöhnlichkeit und Konformismus. Er kann dann steckenbleiben in
snobistischer Exklusivität, und sei sie auch nur in der Kleidung und im Lebensstil verwirklicht, etwa in bohemehafter Rebellion gegen bestehende Normen. All das kann den Menschen immer mehr in seine abgeschirmte
Privatwelt einschließen, in der er durch den fehlenden Nahkontakt und Austausch mit anderen immer mehr isoliert und so zum Außenseiter wird, mit allen darin liegenden Konsequenzen. Kompensatorisch dazu kann er den
Versuch machen, seine Einsamkeit als Unverstanden-Sein zu interpretieren, ja als Zeichen seiner besonderen Genialität, wodurch er sich immer mehr in sich selbst verstrickt – Freiheit ohne jede Bindung wird ihm
zu viel größerer Abhängigkeit. Im Extremfall kann das bis zum Realitätsverlust führen, zur Inflation des Unbewußten bis zur Psychose – er versucht dann, seine Besonderheit wenigstens in einer Wahnwelt
aufrechtzuerhalten.
C. G. Jung hat in der Trauminterpretation die Deutung auf der Subjektstufe besonders betont, nicht nur zur Korrektur der bei Freud überbetonten
Objektstufe und Sexualsymbolik. Vielleicht können wir in der Überbetonung der Subjektstufe noch einmal die Gefahr der einseitig gelebten Wassermannthematik verdeutlichen: wenn wir die Objektstufe völlig
vernachlässigen, ergäbe das eine großartige Unabhängigkeit von der Wirklichkeit, die wir dann nur noch als innerseelische Erlebniskategorie sehen. Das kann zu hybrider Autarkie führen, wo die Welt nur noch
Spiegelung meines subjektiven Erlebens ist, ein Teil von mir – dann wäre man gleichsam der »reinen Wassermannidee« verfallen. Das müßte eine psychotische Gefährdung bedeuten, wenn man sich nicht wieder »erden«
würde, die Realität des Du, der anderen Menschen und der äußeren Wirklichkeit anerkennend. Oskar Adler weist auf die mythologische Entsprechung des Wassermannes in der Gestalt des Antäus hin, der, sich von der Erde
ablösend, in große Höhen erhebt, aber dazwischen immer wieder einmal die Erde berühren muß, um daraus Kraft zu holen: ohne solche »Erdung« verrennt sich der Mensch leicht in Utopien.
Das Kontaktproblem und sein überbetontes Einmaligkeitsbewußtsein sind die schicksalhaft sich auswirkenden Keimsituationen für den unter diesem Zeichen
Geborenen. Die mitmenschliche Isolierung kann auch zu Selbstentfremdungserlebnissen, zu größenwahnsinnigen und paranoiden Entwicklungen führen. Es ist hier aber nicht der unbedingte Glaube an sich selbst, wie beim
Menschen unter dem Zeichen Löwe; noch ist es das selbstgerechte moralische Überlegenheitsgefühl, wie es beim Menschen unter dem Zeichen Schütze zum Allmachtsgefühl bzw. Selbstkult führte; unter dem Zeichen
Wassermann hat die Selbstüberhöhung eher einen kompensatorischen Charakter, ist Ersatz für seine Isolierung und die sich aus ihr ergebenden Selbstzweifel. Depressionen sind auf der oben beschriebenen Basis nicht
selten; sie haben oft einen düster-makabren, pessimistisch-hoffnungslosen Zug, der aus der Verzweiflung an sich selbst stammt, aber auf äußere Situationen projiziert wird.
In der Erziehung ist besonders darauf zu achten, daß man den Individualismus nicht durch Familienarroganz nährt, worauf diese sich auch berufen mag.
Weiter ist zu beachten, daß das Kind hier besonders wenig bereit ist, Konventionen usf. anzunehmen, deren Sinn es nicht versteht oder einsieht. Sagt man ihm, »man« solle etwas so oder so machen, oder »man« dürfe
dies oder jenes nicht, ohne ihm eine vernünftige Begründung dafür anzugeben, reizt das seinen Widerspruch, es nun gerade nicht so zu tun, unnötig, und man kann so Weichen stellen, die später zu Schwierigkeiten
führen. Auch soll man nicht zuviel familiäre Bindung von ihm erwarten oder gar erzwingen – damit treibt man das Kind mit Sicherheit in die Abwehr oder in die Depression, wenn es sich diesen Forderungen nicht
entziehen kann. Dafür soll man seine freundschaftlichen Beziehungen unterstützen – Freundschaft bedeutet für diese Menschen mehr als sonstige Bindungen, hier können sie in selbst gewählter Zuneigung oft ihr
Bestes geben.
Die Lebenslüge bei diesen Menschen liegt vor allem im mißverstandenen Aufruf zur Individuation, wenn sie diese als Betonung ihrer Ichhaftigkeit
auffassen, anstatt als Finden zur Identität mit sich selbst, als sich Besinnen auf den Wesenskern, in welchem sie vom Individuellen wieder zum allgemein Menschlichen hinfinden können. Aus diesem Mißverständnis kommt
es dann zu den schrulligen, bizarren, skurrilen, dabei meist liebenswerten Originalen, die vor ihrer Lebensangst, die Besonderheit ihrer Person aufgeben zu müssen in Zugehörigkeiten, die sie nur als ihrer unwürdige
Anpassung und Konformismus sehen – in überspannten Individualismus ausweichen und über dem Pflegen ihrer Besonderheit das Lieben vergessen. Sie leben dann in der dünnen Luft eines solipsistischen Denkens, das
ihnen immer mehr zu einem System wird, in dem sie ihr eigener Gefangener und immer undurchlässiger für den Mitmenschen werden. Auf der anderen Seite stehen die Menschen, die mit intuitiver Klarheit und ahnender
Vorausschau eine geistige Souveränität erreichen, auf der originäre und bedeutende Leistungen möglich werden, sei es als Entdecker, Erfinder, sei es auf einem Gebiet des Humanen. Es sind dann Menschen, die neben
ihrer geistigen Leichtigkeit die »Erde« nicht vergessen, ohne ihr aber zu sehr zu verfallen, aber auch ohne in die Scheingeborgenheit arroganter Exklusivität zu flüchten – Menschen, die die Spannung zwischen
der Heiterkeit des Geistes und der Schwere des Irdischen zu versöhnen verstehen, wie wir es vielleicht spüren können bei Mozart, Byron, C. G. Jung, J. Joyce, Franz Marc und Krishnamurti. Und vielleicht spiegelt auch
Jules Verne in seinen die Zukunft ahnend vorwegnehmenden Romanen etwas von der Idee dieses Zeichens.
Das Zeichen Wassermann interessiert uns heute besonders, weil die Erdachse, zum erstenmal in historischer Zeit, etwa um die Mitte unseres Jahrhunderts
von den Fischen in das Zeichen Wassermann gerückt ist. Vielleicht können wir in Kollektivphänomenen, die seit dieser Zeit immer unübersehbarer und aufrüttelnder für uns geworden sind und die ich als einen
»Schizoidisierungsprozeß« beschrieben habe [»Die schizoide Gesellschaft«] – in der Ablösung von Traditionen und Bindungen familiärer, völkischer und rassischer Art; in der Bemühung um das allgemein
Menschliche, Übernationale, in den heute durch die Massenmedien möglich gewordenen weltweiten Perspektiven mit der Überwindung von Raum und Zeit – die ersten Ansätze des »Wassermannzeitalters« sehen. Es hat
den Anschein, als ob der Mensch mehr und mehr in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sei: die Wissenschaften vom Menschen gewinnen – neben der Technik – immer größere Bedeutung; wir suchen unsere
biologischen, familiären, sozialen und psychologischen Gegebenheiten immer besser zu verstehen und bemühen uns um ein neues Selbstverständnis; das alles kann zu einer neuen Humanität führen. Aber auch die
gefährlichen Seiten lassen sich deutlich genug erkennen: in der Neigung zu hybriden Allmachtsvorstellungen, im Streben nach einer Autarkie, die uns auch aus notwendigen Bindungen und Verwurzelungen herausnehmen
will, in zunehmenden mitmenschlichen Kontaktproblemen. Wir kennen utopische Ideologien von ungemeiner Breitenwirkung, menschheitsverbrüdernde Bestrebungen, zugleich eine immer gefährlicher werdende – weil
organisierte, intelligente und internationale – Kriminalität, die sich oft den Anschein humaner Motivierung gibt.
So kann der Mensch heute in neuer Freiheit, die ihm nicht zuletzt die Fortschritte der Technik und der Naturwissenschaften ermöglichten, in souveräner
Unabhängigkeit in der Welt stehen und sich humanen Aufgaben widmen. Er kann die Würde des einzelnen vertreten gegen veraltete autoritäre Mächte und erkennen, daß ein hochentwickeltes soziales Gefüge letztlich auf
der Entwicklungshöhe seiner Individuen ruht, zugleich den einzelnen die besten Entfaltungsmöglichkeiten für ihre Persönlichkeit bietet. Gründungen wie die UNO und andere übernationale Institutionen; die zunehmende
Tendenz zu ebenbürtiger Teamarbeit statt autoritärer Hierarchien; die Abneigung gegen die von der Gesellschaft geforderten Rollen von Mann und Frau, die so oft deren eigenem Wesen nicht entsprachen; die Anerkennung
der Frau als gleichwertig dem Manne gegenüber – in allem sind Ansätze zur Verwirklichung der Wassermannidee zu erkennen. Es bleibt die bange Frage offen, ob der niedere oder der höhere Wassermanntypus die
Führung erlangt. Im ersten Fall ginge die Entwicklung weiter in die Richtung unverbindlicher Freiheiten, allgemeiner Bindungslosigkeit und des überwertigen Individualismus, in dem der Mensch solipsistisch leben
würde, im Protest gegen alles Einengende, in ungehemmt ausgelebter Egozentrik und einer immer inhumaner werdenden Technisierung unseres Lebens. Dafür lassen sich durchaus Anzeichen erkennen. Kontrapunktisch dazu
ständen die utopischen kollektiven Ideologien, die die verlorene mitmenschliche Verbundenheit ersetzen sollen und doch nicht können. Im zweiten Fall würden wir uns einer neuen Humanität nähern und die Bedingungen
dafür zu schaffen versuchen, daß für die Menschheit als Ganzes und für die Individuen die jeweils optimalen Lebensbedingungen angestrebt werden, in neuem Respekt vor dem Einzelschicksal, vor dem Menschen als
Individuum. Uns würde statt der alten patriarchalisch-autoritären Ordnung eine mehr brüderlich-geschwisterliche Ordnung vorschweben, in welcher das allen Menschen Gemeinsame und damit das eigentlich Menschliche das
Wesentliche wäre. Auch dafür spricht manches, glücklicherweise.
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